Dieses Mal bin ich auf der anderen Seite des Flusses gelaufen, dort, wo die Luft viel klarer ist und die Wege nicht von Müll überhäuft. Ich bin in die andere Richtung gerannt, nicht der aufgehenden Sonne entgegen wie sonst, sondern entgegengesetzt, fort von ihr.

Nun sitze ich am Ufer des dunklen Sees, in dem sich die Bäume mit ihrem nun schon dichten Blätterwerk spiegeln. Ich suche mir dicke, runde Steine, die ich ins Wasser werfe. Ich mag es, wie die sanften Wellen sie mit einem zufriedenen Schmatzer verschlucken.

Plötzlich tanzt ein Stein über die Wasseroberfläche, nicht von mir geworfen, er berührt einige Male anmutig das Wasser, neckt es, liebkost es, bevor er darin versinkt.

Bildquelle: eigene Aufnahme

„Du bist wieder da“, sage ich aufs Wasser hinaus. „Natürlich“, höre ich dich glucksen, „ich bin nie weg gewesen!“. Ich schaue weiter geradeaus, spüre deine Anwesenheit nur, erahne dich an meiner Seite. Du lehnst dein Köpfchen an meine Schulter, ich widerstehe dem Impuls, schützend einen Arm um dich zu legen, dir übers Haar zu streicheln. Da kneifst du mich in die Seite, wie so oft zuvor, und kicherst. „Sag schon, dass du mich vermisst hast!“ forderst du.

Ich überlege. Habe ich dich vermisst? Was hat mir ohne dich gefehlt?

Ich lasse mir Zeit, die Antwort in mir zu finden, starre auf die Wellen hinab, während du ungeduldig mit dem Fuß im Kies scharrst. All die blauen Flecke und Narben, die du mir hinterlassen hast, lösen Melancholie in mir aus. Schließlich hebe ich den Kopf, blinzle in die Sonne und sage: „Nein. Ich habe, irgendwann vor langer Zeit schon, aufgehört dich zu vermissen. Wenn du da bist, genieße ich die Zeit mit dir, dann lasse ich dich gehen, halte dich nicht fest. Zu oft bist du unter meinen Händen in tausend Scherben zersplittert. Ich erkenne dich nun als Idee – als zauberhaften Traum, der nicht verharren darf. Du bist mein Heimweh nach Anderswo, das ich nie stillen kann.“

Was glauben wir alles zu „müssen“, oft, ohne es zu merken? „Ich muss erfolgreich sein“, „Ich muss eine glückliche Beziehung führen“, „Ich muss besonders gut / schnell / schlau / nett / selbstlos / xy sein“, „Ich muss tolle / intelligente / zufriedene / xy Kinder haben“ und so vieles mehr. All diese selbstauferlegten Ansprüche, diese rigiden Glaubenssätze, haben ihren Ursprung doch darin, dass wir uns aus fremden Augen sehen, dass wir Erwartungen, von denen wir glaub(t)en, dass andere Menschen sie an uns richten, unbedingt erfüllen wollen.

Doch weshalb?

Wärst du der einzige Mensch auf dieser Welt – was wäre dir wirklich wichtig? Hör auf zu „müssen“ - beginne zu „sein“. Spiele mit deinen Wünschen, tanze mit deinen Ideen – und lass sie ziehen, hören sie auf, gut für dich zu sein.

Halte einen Moment inne. Schau dich um: Das ist dein Leben. Dieser Moment ist alles, was du hast, was du jemals haben wirst - er ist allumfassend. Was hindert dich daran, jetzt, in diesem Augenblick, nur für ihn, zufrieden, gar glücklich zu sein? 

Ich fixiere deine schimmernde Reflexion in der spiegelnden Wasseroberfläche, betrachte deinen Lichterschein, du löst dich in der funkelnden Sonne auf. „Vano fantasma de niebla y luz“, echot es durch meine Gedanken, „eitles Nebellichtgespinst“. Ich erkenne mein Spiegelbild dort, wo eben noch du zu erahnen gewesen bist.

Der Kies unter meinen Händen ist angenehm trocken und warm, meine Finger umschließen einen glatten flachen Stein, ich hebe ihn auf und werfe ihn auf den See hinaus.

Federleicht berührt er einige Male das Wasser, malt wunderschöne Kreise, bevor er still in die Tiefe gleitet, dem Grund zu.

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