Als ich ein Kind war, ging mein Großvater oft mit mir an den Chiemsee: In meinen Augen war er als Leiter der Wasserwacht der größte Held der Welt. Wenn er nachts ausrücken musste, weil sich trotz der Sturmwarnung ein unbedarfter Tourist aufs Wasser wagte und dann den schützenden Hafen nicht mehr erreichte, sah ich ihn in meiner Vorstellung den Havarierten, wie der heilige Christophorus das Jesuskind, aus den Fluten tragen.

Ich liebte es, mir Geschichten auszudenken, die ich ihm dann erzählte, wenn wir zusammen auf der Hollywoodschaukel saßen und ich seinen Pfeifenrauchkringeln nachblickte. Ruhig hörte er zu, um ab und zu andächtig seinen Kopf zu wiegen und sein „mhm“ zu brummeln und mich ziemlich grob am Ohr zu ziehen. Ich hielt den Schmerz aus, den er mir damit verursachte, und blinzelte die Tränen weg, denn ich spürte, dass dies sein allergrößter Liebesbeweis war – und auch die einzige „Zärtlichkeit“, zu der er fähig war. Wie so viele andere dieser Generation war auch mein Opa lange in Kriegsgefangenschaft und hatte jede Zärtlichkeit verlernt.

Ich begann, an meine eigenen Kreationen, die oft von fabelhaften Seewesen oder auch realen Wassertieren handelten, zu glauben und hinterfragte meine eigene phantastische Welt, die mein Kleinmädchenherz erfüllte, nicht mehr: Für mich waren Schwäne verzauberte Prinzen, und die kleinen, braunen Enten Prinzessinnen. In dieser Welt waren wir alle dazu bestimmt, unsere wahre Liebe zu finden, und so unser Schicksal zu erfüllen: Liebe war der Sinn.

Wenn ich eine Ente am Ufer des Chiemsees watscheln sah, kniete ich mich zu ihr, lockte sie zu mir, um ihr sanft mit einem Finger übers Gefieder zu streicheln und erzählte ihr von ihrem Bräutigam, der just in diesem Moment über die Wellen des Sees jagte, um bei ihr zu sein.

Ich weiß nicht mehr, wann ich aufhörte, an die romantische Illusion zu glauben, in der Prinzen Prinzessinnen retten und Liebe alles bedeutet. Irgendwann auf dem Weg des Erwachsenwerdens holte mich die Realität ein, und verzauberte Prinzen wurden wieder zu dem was sie sind: kitschige Figuren aus Märchen für Kinder á la Froschkönig und Liebe wurde zu einem Cocktail aus Hormonen und Neurotransmittern.

Den Glauben allerdings, dass Enten die Frauen von Schwänen sind, bewahrte ich mir bis vor wenigen Jahren. Wie groß war mein Erstaunen und auch die Belustigung meiner Freunde, als durch ein Zufall mein lebenslanger Irrtum ans Licht kam: Schwäne heiraten Schwäninnen und keine Enten, denn die haben Enteriche als Partner. Als mich mit einem derart banalen naturwissenschaftlichen Randdetail des Lebens die raue Wirklichkeit einholte, war es, als ob für mich ein Stück meiner Kindheit stirbt. Gerne wäre ich weiter ignorant durchs Leben gegangen, zumindest, was diese Information angeht...

Heute blicke ich um mich und sehe Menschen mit Fakten, Zahlen und Wissensbausteinen jonglieren. Ich sehe sie an und versuche das Kind hinter der Maske der ratio zu erkennen: das Kind, das mit leuchtenden Augen einer grandiosen Zukunft entgegen stürmt, dessen Herz erfüllt ist von den Kostbarkeiten des Lebens, das nie auf die Idee kommt, seinen unerschütterlichen Glauben an die Macht der Liebe in Frage zu stellen.

 

Ich frage mich, in welcher Welt wir leben könnten, wenn nicht so viele von uns vor dem Verstand in die Knie gegangen wären, wenn wir es uns erlauben würden, an das Gute zu glauben: daran, dass wir uns zur Seite stehen können, uns gegenseitig retten können, wie der Schwan seine Prinzessin, statt uns zu bedrohen und uns gegenseitig um das Kostbarste, was ein jeder besitzt, zu bringen, oft ungewollt, unbeabsichtigt: die Lebendigkeit in seiner Seele.

Und, ja: Manchmal wünscht man sich, etwas nicht zu wissen, um weiter glauben zu können.

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