Ich sitze in der Abenddämmerung auf dem Steg und lasse meine Beine ins Meer baumeln – doch bevor ich nicht nur körperlich, sondern auch geistig in meinem Urlaub ankommen kann, muss ich meinen vagen Gedankengespinsten noch etwas Aufmerksamkeit widmen, so dass sie sich beschwichtigt auflösen. So lasse ich die wichtigsten Ereignisse der letzten Wochen Revue passieren, verweile dabei auch noch ein wenig mit einigen meiner Studierenden und Klienten und bei ihren Anliegen.
Viele meiner Kollegen werden bestätigen, dass sich spezifische Themen zeitlich häufen – verschiedene Klienten präsentieren zur gleichen Zeit ähnliche Herausforderungen zur Bearbeitung in der Therapie. Dies ist die Zeit der Beziehungsthemen. Und während ich hier die laue Abendwärme und den Pinien-Duft der lykischen Küste tief in mich aufnehme, ist mein Gemüt noch in heller Aufruhr, mein Herz schlägt schnell, und meine Gedanken drehen sich trübe im Kreis: Wird diese oder jene therapeutische Intervention schon zum Erfolg führen oder wird es weiterer Arbeit bedürfen? Liebe lässt uns am heftigsten leiden... Sind die wenigen Momente der Glückseligkeit den schweren Kummer wert? Wessen Leidenschaften lassen sich wie kanalisieren, so dass Leiden überflüssig wird? Wem hätte ich vielleicht mit einem Verweis auf Epiktet noch ein wenig Linderung verschaffen können?
Ich atme tief aus und lausche dem Rauschen der Wellen – großzügig gibt uns die See eine Melodie vor, die wir beliebig mit Bedeutung hinterlegen können: Das Meer kann ein Wort flüstern, einen Schwur hauchen, einen Namen rufen
(„Vine a llamarte a los acantilados y sólo el mar me respondió desde su leche instantánea y voraz de sus espumas...“: Lied Marino de Javier Mutis)
– in diesem Moment höre ich ein Lied, das ich längst vergessen glaubte: Signor Rossi sucht das Glück.
Wir alle wollen, hoffen, glauben zu brauchen... so viel, so oft, so beständig... Kontinuierlich wollen wir etwas, wollen wir jemanden: Dieses eine Wort, diesen einen Blick, diese eine Berührung, disen einen Menschen, diesen einen Augenblick... Niemals kann dieses Streben dauerhaft besänftigt werden, nur kurz hält es im Moment seiner Erfüllung inne, um dann umso lauter, wilder erneut an die Ufer unseres Bewusstseins zu donnern. Und ich – ich sehne mich nach epiktetischer Gelassenheit.
Mein Blick berührt den Ozean, er schaut zurück. Dort, wo der Mond sich im Meer spiegelt, funkelt es wie tausend Diamanten: Yakamoz. Genau dies meint dieses wunderbare türkische Wort: Die Reflektion des Mond- oder Sonnenscheins in einer Wasseroberfläche. Yakamoz lädt zum Träumen ein – Yakamoz ist eine Einladung zur Beschwichtigung des Aufruhrs der Seele.
„Sein, nur sein“ raunen die sanften Wellen, während Yakamoz auf ihnen tanzt.
Ich spüre eine tiefe Sehnsucht: Die Sehnsucht nur danach, einfach nur zu sein. Unbewertet, selbst wertfrei. Nur sein. Voll und ganz im Bewusstsein der Vergänglichkeit, so dass neue Ideen entstehen können, sich endlich trauen können aus alten zu evolvieren, um ihren Platz zu finden in kosmologischer Zeitlosigkeit. Denn Zeit ist nur der Rahmen, in dem wir aufhalten, und wenn auch wir ihn nicht verlassen können: Unsere Ideen tun dies permanent. Jeder Gedanke wird als Idee zeitlos, wird Teil des Erbes der Menschheit.
Doch für diesen Moment gilt: Sei. Sei einfach. Sei.