Der Sommer ist beinahe vorbei und wie jedes Jahr zu dieser Jahreszeit drehen sich viele meiner Patientengespräche um die Liebe (und artverwandte Unpässlichkeiten): Viele Beziehungen überlebten den gemeinsamen Urlaub nicht, so manchen Flirt in der heißen Sonne kühlte das Air Conditioning im Flugzeug nur allzu schnell wieder herunter. Den Dauersingles ist wieder einmal ein Sommer entwischt, nun droht schon der Herbst mit seiner Endgültigkeit. Doch eine Restgruppe hadert noch mehr als die anderen: Es sind die Menschen, die eine Sommerliebe fanden und nun vor der Entscheidung stehen, sich auf einen Beziehungsversuch einzulassen. Oder doch lieber gleich Rilkes „Herbsttag“ zur Hand zu nehmen:
Herbsttag
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
(Rainer Maria Rilke, 1902)
Selbst jene, die ihre Bindungssehnsucht über viele Monate hinweg hegten und pflegten, die die Vorstellung einer festen Beziehung idealisierten und dachten, dass eben jene ihr Schlüssel zum Glück sei – selbst (oder gerade) jene schrecken nun oft vor dem Wagnis einer Alltagsbeziehung zurück.
Ja, sie ist ein Wagnis – wenn sich alkoholgeschwängertes sommernächtliches „laissez-faire“ und Leidenschaft nun dem Weckerklingeln um 6 Uhr morgens stellen müssen, wenn man nicht mehr darauf achten kann, sich nur links im Profil zu zeigen, weil das die Schokoladenseite ist... wenn man dem Schnarchen nicht mehr dadurch entfliehen kann, dass man einfach ins eigene Hotelzimmer geht... wenn auf einmal der Lebensstil, Ernährungsgewohnheiten, Alltagsroutinen, Expartner*innen, Familie, Kollegen/innen und der ganze Freundesclan eine Rolle spielen...
Wo ist sie plötzlich, die unbeschreibliche Leichtigkeit der Begegnung? Nun stellen sich manche die Frage, ob „sich das denn lohnt“. Was sie meinen, ist meistens, ob sie wirklich schon bereit sind, die Idee des ewig währenden Dauerverliebtheitsrausches aufzugeben – oder ob sie nicht lieber noch, die Illusion der nie müden Schmetterlinge im Bauch symbolhaft vor sich her tragend, einige Runden auf dem ergiebigen Markt der einsamen Herzen drehen wollen. Eine reale Enttäuschung auszuhalten ist oft einfacher als einen sehnsuchtsvollen Traum zu begraben – selbst, wenn wir ihn bereits als Utopie erkannt haben.
In solchen Fällen erzähle ich meinen Klienten manchmal eine kleine Geschichte (wir Hypnotherapeuten aus der Tradition von Milton Erickson versäumen kaum eine Gelegenheit, Geschichten zu erzählen): Ich erzähle, wie ich kürzlich in einem Lokal war, das den klangvollen Namen „Habibi“ trug. Ich erzähle meinen Klienten, dass .. Habibi... das Wort für mich wie eine endlose weiche Wüste klingt, mit sanft geschwungenen Dünen und in der Sonne glitzernden Oasen, es lässt den Duft nach orangefarbenen Sand atmen und öffnet sich dem Blick auf das nächtliche sternenübersäte Firmament. Der Klang ruft vage Erinnerungen nach Berührungen hervor, nach Fingern, die sanft die Wange streicheln, nach der Empfindung, wie es ist, wenn in deinen Armen jemand weint.
„Was heißt denn das, Habibi?“ will ich vom Lokalbesitzer wissen, und er strahlt mich an: „Mein Schatz, mein Geliebter, heißt Habibi“, entgegnet er mir - „wenn du einen Mann rufst. Eine Frau, die Geliebte, der Schatz des Mannes, wird mit Ḥabībati bezeichnet.“
Jetzt frage ich dich: Welches ist das Gesicht, das du vor deinem inneren Auge siehst, wenn du dich an den Klang des Wortes schmiegst, wenn du deine Sehnsucht darin badest, wenn du die Vokale trinkst? Schau es dir an, was siehst du?
Dann wirst du wissen, ob du gehen oder bleiben willst.