„Ich bin so allein, wie soll ich jemand Neues finden, man darf ja nicht mal mehr richtig raus! Ich hasse das so. Wie stehen Sie das alles denn durch? “ Die verzweifelt-interessierte Frage meines Klienten erwischt mich kalt. Es ist für uns Therapeuten ungewohnt, nach dem eigenen Befinden gefragt zu werden. Spontan zu antworten ist hier gar nicht so leicht. Egal, welche Schule wir vertreten, das alte Postulat spukt uns doch immer im Kopf herum: „Gib nichts von dir preis, sei eine weiße Leinwand, auf die der Klient all seine Neurosen projiziert. So könnt ihr sie ausloten.“
Ich vertrete die dieser Forderung entgegen gerichteten, humanistischen Ansätze: Jede therapeutische Arbeit ist Beziehungsgestaltung. Dieses Credo fordert Authentizität. Dazu gehört, dass wir durchaus persönlich Stellung zu Anliegen des Klienten beziehen – immer vorausgesetzt, dies ist ihm von Nutzen.
Kurz erwäge ich für mich, ob es für den Klienten hilfreicher wäre, wenn ich seine Frage an ihn zurückspiegele, in etwa „Sie brauchen jemanden, der Ihnen einen anderen Weg zeigt, misstrauen hier sich selbst“ oder ob ich ihm persönlich Rede und Antwort stehe. Der Redeanteil in einer Sitzung liegt normalerweise bei 80 – 90 % (Klient) zu 10 – 20 % (Therapeut). Selten ist es umgekehrt. Doch wenn der Therapeut persönlich Stellung bezieht ist es immer anders.
Vor allem innerhalb des „limited reparenting“ ist es essentiell, dass der Therapeut sich auch als echtes Gegenüber zeigt. Als ein Mensch, der selber denkt, fühlt, handelt. So wollen wir in der Therapie auch jene Ego States, Persönlichkeitsanteile, nachreifen lassen, die in früheren Lebensphasen nicht begleitet wurden, die nicht angeleitet werden konnten.
Ich entscheide mich also für die zweite Option. Wir haben in den vergangenen neun Monaten unseren erarbeiteten Ressourcenkatalog durchexerziert. Nichts bleibt mehr. Meine eigene Kreativität ist selbst so ausgehungert, dass sie kaum mehr neue Ideen produziert. Sie muss dringend von außen wieder angefüttert werden, braucht Stimulation durch Reisen, Theater, Ausstellungen, Konzerte, fremde Wort-, Bild- und Klangwelten...
Also zucke ich mit die Schultern: „Wissen Sie“, sage ich, „wir sind fast alle noch vor einem Jahr jeden Tag blindlings über die riesige Brücke gefahren, die wir Gegenwart nennen. Einfach so, geradeaus von der Vergangenheit in die Zukunft. Ohne uns dessen bewusst zu werden. Jetzt ist sie marode geworden, teils schon eingestürzt. Während wir nun fahren, müssen wir immer wieder an der Brücke bauen, damit sie uns trägt. Jeden Tag aufs Neue. Unsere neu erworbenen Routinen langweilen uns inzwischen. Sie sind noch keine Automatismen, sie strengen oder öden an. Und doch geht es ja nicht darum, unangenehme Gefühle nie mehr zu haben. Es geht darum, sie aushalten zu können. Sie auszuhalten in dem Wissen, dass sie vorüber gehen. Sie gehen schneller vorüber, wenn das Bedürfnis, das sie verursacht, ausfindig gemacht wurde.“
Ich halte kurz inne, ich habe die volle Aufmerksamkeit meines Gegenübers.
Es ist, als ob Milton Erickson, der Begründer der indirekt-permissiven Hypnotherapie, ein begnadeter Geschichtenerzähler, mir in die Rippen piekst, damit ich in seinem Sinne fortfahre.
Ich weiß, dass mein Klient ein treuer Kenny Rogers Fan ist, und so fange ich leise an zu summen: „You picked a fine time to leave me, Lucille“ Und dann erzähle ich weiter:
„Ich stehe es durch, indem ich meine Gedanken ziehen lasse... Ich lasse sie um die dunklen Ecken, durch die düsteren Gassen ziehen. Ich lasse sie in die Sonne schauen. Ich probiere mentale Modelle an, wende mich in diesen neuen Kleidern vor den Spiegeln anderer. Das, was wichtig ist, was mir steht, bleibt eh, oder kommt zurück.
Seit ungefähr sieben Jahren diskutieren ein Freund und ich die Frage, was das Gegenteil von Liebe sei. Hass, meint er. Gleichgültigkeit, entgegne ich. Sieben Jahre lang fliegen unsere Argumente hin und her. Keine Schopenhauersche Methode der eristischen Dialektik hilft. Wir schaffen es nicht, den anderen zu überzeugen. Dann wieder tritt unsere philosophische Debatte in den Hintergrund, wir vergessen sie für einige Zeit, bis irgendeine Koinzidenz sie neu belebt.
Für ihn liegen Hass und Liebe als starke Gefühle auf einem Kontinuum an gegenüberliegenden Polen. Als ob Hass und Liebe durch irgendeine Brücke verbunden seien. Oder vielmehr Herz und Pik, wie wir es nun nennen, seit ich bei einem Winterlauf auf ein natürliches Kunstwerk aus gefallenen Blättern stieß: Wie ein ganzes Kartenset aus Herz, Pik, Kreuz und Karo lag das Laub im Schnee. „Kannst du jemanden gleichzeitig lieben und hassen?!“, wird er mich fragen, und ich werde mit „Natürlich, weil es unterschiedliche Kategorien sind!“ antworten. Denn für mich stellt Liebe kein echtes Gefühl, sondern ein Bedürfnis dar. Hass hingegen ist eine Sekundäremotion, setzt sich aus mehreren Primäremotionen zusammen. Meist sind Wut und Ekel beteiligt, manchmal Angst. Das Bezeichnende am Hass ist aus meiner Perspektive, dass er empfunden wird, wenn das Bedürfnis nach Liebe verletzt ist: Um ein Bedürfnis zu befriedigen, wenden wir alle verschiedene Strategien an. Meistens kristallisiert sich eine Strategie als bevorzugte heraus, manchmal glauben wir dann mit der Zeit, dass es keine anderen Strategien gäbe. Das Bedürfnis nach Bewegung kann beispielsweise mit Joggen befriedigt werden. Wenn du nun aber eine Knieverletzung hast und mit dem Laufen pausieren musst, heißt das nicht, dass dein Bedürfnis nach Bewegung brachliegen muss. Vielmehr bist du nun gefordert, dir andere Strategien zu überlegen.
Wenn wir nun Liebe spüren (Bedürfnis) und die Nähe der geliebten Person suchen (Strategie), fühlen wir uns voller Freude (Primäremotion), beschwingt, glücklich, leicht, euphorisch (Sekundäremotionen). Wenn uns die Nähe der geliebten Person nun versagt bleibt (vielleicht verlässt sie uns, betrügt uns, wird uns weggenommen), erlischt das Gefühl der Freude. Die Liebe bleibt. Vielleicht.
Und vielleicht fühlen wir nun Hass (Sekundäremotion) für die Person, die uns diese Freude wegnahm. Manchmal treffen Liebe und Hass in einem Menschen zusammen, weil er, also dieser Mensch, unsere Lieblingsstrategie war: Seine Nähe erfüllte unser Liebesbedürfnis und nun entzog er sich. Ja, du kannst Herz und Pik zusammen auf der Hand haben.“
Ich bin still und sehe meinen Klienten an. Ich bin gespannt, was er aus meiner Geschichte macht, welchen Teil er für sich als wichtig erachtet. „Ich verstehe“; nickt er, „ich bin jetzt nicht dazu verdammt, nur auszuhalten und zu warten. Wenn ich mein Bedürfnis kenne, kann ich mir meine Strategien bewusst machen. Ich kann sie gezielt wählen, ich bin da frei, andere zu probieren!“
„Ja“, ich freue mich, dass er für sich etwas entdeckte, „das nennen wir in der Psychologie Selbsteffizienz. Das wichtigste Antidot zur erlernten Hilflosigkeit und zu Depression!“
„M-hm“, stimmt er zu, „aber ich glaube auch, dass das Gegenteil von Liebe Hass ist!“
Ich grinse seufzend, hebe theatralisch die Hände und lasse sie fallen: „Es ist wohl mein Schicksal, dass niemand mich versteht!“, spiele ich amüsiert die Opferhaltung nach, und wir lachen.