Es scheint eine Zeit, in der Solidarität hoch gepriesen und kaum gelebt wird. Eine Zeit, in der du durch die stillen Straßen eilst und Passanten sich, sollten Wege sich kreuzen, Ausscherspuren durch den Matsch am Wegesrand pflügen. Du versuchst, einen Blick mit einem Lächeln einzufangen, doch jeder hat seinen Kopf längst in die andere Richtung gedreht – sogar Hunde, die an einer Schleppleine laufen, werden als potentielle Gesundheitsgefährder mit zusammengekniffenen Augen und zusammengepressten Lippen beäugt. Die Welt hat wieder einen Feind und zieht sich zusammen, macht sich klein: Grenzen sind hochgefahren, Gesichter verdeckt, alles, was hineinlassen könnte, Landesgrenzen, Türen, Fenster, Nasenlöcher, Münder, Augen und Ohren werden verengt und abgedeckt.

Zettel kleben an Türen: Nachbarschaftshilfe wird ausgelobt. Menschen, die für andere einkaufen würden, selbstverständlich kostenlos.
Zettel kleben an den Supermärkten: „Abstand halten, mindst. 1,5 m“. Und die Einkäufer, mit ihren Nudeln und Konserven bepackt, halten die Markierungen am Boden gleich dreimal ein. Schimpfen, fluchen, drohen, wenn einer „nur“ auf 2 Meter Distanz bleibt. Die Zeit, in denen sie sich wegen der letzten Packung Küchenrolle schlugen, ist damit jedoch auch vorbei. Jetzt traut sich keiner mehr an den anderen hin.

Lächeln, grüßen sind Mangelware, sind schneller ausgegangen als das Toilettenpapier.
„Verbarrikadiere dich, du musst die anderen schützen!“, mit der Vermittlung eines Schuldgefühls wurde noch immer fast jeder eingespurt. Wer hat schon Angst um sich?
Es regiert die Furcht, jemanden, den man liebt, zu infizieren – jemanden, der an dem Virus sterben wird. Das hält klein, da hält man still, da betrachtet man jeden als möglichen Feind, der nicht offensichtlich "Risikogruppe" ist (welch´ Unwort!), und den man eben gerade nicht liebt. Auch ich halte den Atem an, schlage einen Bogen, wenn ein Greis sorglos, wie unbeteiligt, im Supermarkt auf mich zu schlappt, um neben mir ein Produkt aus dem Regal zu holen.

Schuld, Leid und Tot gehören zum Leben unausweichlich dazu, forderte uns Viktor Frankl auf, uns der Wirklichkeit eines bewusstseinserfüllten Lebens, eines gewahrsamen Seins, zu stellen. Wir Menschen sind gesegnet mit Gedanken- und Bewusstlosigkeit, wir sind nicht durch Ignoranz geschont, unsere Tage sind geprägt von Angst, Krankheit, Schicksalsschlägen. Jeder Tag, den wir leben, verbraucht Ressourcen, nimmt von anderen Lebewesen. Und wir wissen darum, sind uns dessen bewusst. Das ist die noetische Last, die Kehrseite des Bewusstseins.

„Wenn alle geizen wagt es zu schenken“, hallt mir eine Liedzeile von Konstantin Wecker im Ohr und für einen Moment lasse ich mich wegtragen von einer losen Assoziationskette, lächle vor mich hin, lächle mich selbst an. Wenn es schon gerade keinen gibt, der es erwidert, schenke ich mir mein Lächeln eben selbst.

Ja, die Welt wird sich erholen, auch die Wirtschaft, irgendwann, und die Pandemie wird eine Erinnerung sein, eine, die gewaltige Spuren hinterließ, die Narben schlug, mehr noch in der Seele der Mitmenschlichkeit.

 

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Sind Schlüssel aller Kreaturen

Wenn die so singen, oder küssen,

Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

Wenn sich die Welt ins freye Leben

Und in die Welt wird zurück begeben,

Wenn dann sich wieder Licht und Schatten

Zu ächter Klarheit wieder gatten,

Und man in Mährchen und Gedichten

Erkennt die wahren Weltgeschichten,

Dann fliegt vor Einem geheimen Wort

Das ganze verkehrte Wesen fort.“

 

Wahrscheinlich war es im Sommer 1800, als Novalis dies dichtete, es stellte sich als eines seiner letzten Werke heraus (Novalis starb 1801).

Lasst das geheime Wort Mitgefühl sein, lasst uns wieder einander zulächeln, uns anlachen, uns verschwörerisch zunicken. Wir sind, jeden Tag aufs Neue, Überlebende eines gewaltigen Schiffbruchs der Menschlichkeit.

 

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