Kürzlich, während eines mehrtägigen Seminaraufenthalts, lief ich morgens immer dieselbe Strecke: Für meine Runde, die 8,2 km betrug, habe ich stets eine vergleichbare Zeit gebraucht. Doch dann, als ich eines Morgens wie gewohnt nach meiner Laufrunde auf meine Uhr blickte, zeigte sie mir 10,2 km in der gleichen Zeit an.
Natürlich ist klar, dass sich das Raumzeit-Gefüge wohl kaum plötzlich verschoben hat, sondern dass meine Uhr sich „verzählte“.
Und doch stolperte ich gedanklich über den Sprachgebrauch: Ich wunderte mich, weshalb wir von „dasselbe“ und „das gleiche“ bzw. weshalb wir von derselben Strecke, aber von der gleichen Zeit sprechen. „Dasselbe“ setzt eine Identitätsbeziehung – „Das gleiche“ jedoch nicht.
Die grammatikalische Struktur impliziert die Möglichkeit der Invariabilität des Raums, jedoch nicht der Zeit... Woran liegt das, fragte ich mich – und diese Frage ließ mich nicht mehr los. Ich begab mich wieder einmal auf Spurensuche nach einer der alten ungelösten Fragen der Philosophie: Was ist Zeit? Existiert Zeit an sich? Über mehrere Tage begleitete diese Fragestellung meinen Alltag, sie ging mit mir schlafen, wachte mit mir auf, bestimmte meine Bettlektüre, trabte mit mir am Flussufer entlang. Und kontinuierlich klopfte mir dabei (der von mir in seiner verzweifelten Zerrissenheit so geliebte) Sören Kierkegaard gedanklich auf die Schulter – was mich sehr erstaunte, denn als Analytischer Philosoph ist Kierkegaard wohl kaum zu verstehen. Doch dann, als ich durch dichten Nebel lief, der nur die Dinge, die direkt vor meinen Augen erschienen, klar sich zeigen ließ und in seinen Schwaden alles, was dahinter lag, verbarg, konvergierte für einen Moment mein Denken: Und meine Frage löste sich auf. Ich hatte meine Antwort: Zeit = transzendierte Liebe (Liebe im Sinne Erich Fromms).
[Exkurs:
In der Kantschen Tradition ist Zeit wie Raum eine Verstandeskategorie, die unabdingbare Voraussetzung dafür, überhaupt etwas wahrnehmen zu können. Außerhalb dieser Anschauungsform, „an sich“ existiert beides nicht. Dieses Verständnis der Zeit als wesentlich Unwirkliches, sich allein auf die Erfahrung von uns Menschen begründend, ist weit verbreitet. (Der Physiker Lee Smolin jedoch spricht der Zeit wirklichen Charakter zu und will damit ein neues Verständnis von Realität und Zeit vermitteln.)
Ich verstehe Zeit als wahrgenommene Veränderung (Zeit = wahrgenommene Veränderung) von Objekten / Zuständen im und des Raums. (So wie ein Dreieck eine von drei Linien begrenzte Fläche ist, wie H2O Wasser ist – und sich nicht daraus ergibt oder Ähnliches).
Die wahrgenommene Veränderung bildet eine Zustandsänderung, mithin die Energieveränderung, von Materie ab (entspricht ihr nicht vollkommen, denn nicht jede Veränderung nehme ich wahr). Dies wiederum erinnert sehr an das (philosophische) Verständnis von Information, die neben den physikalischen Größen Energie und Masse als immaterielle Größe unsere Welt konstituieren mag (so führt z.B. Klaus Hofer Information in der SEMI-Theorie als 11. Dimension neben den Raum-Zeitdimensionen der Superstringtheorie ein. Wenn seine Berechnungen des Informationsquotienten stimmen, kann damit der beginnende Übergang zur Singularität und schließlich zu Maschinenlebewesen verargumentiert werden).]
Entspricht Zeit vielleicht Information? Information meint die Möglichkeit der Veränderung, entspricht einem Entwicklungspotenzial, ist schlussendlich Durchdrungensein von Möglichkeiten. Das, was uns als Lebewesen auf dieser Informationsebene verbindet, ist Lebendigkeit. Leben strebt nach seiner Weiterentwicklung, nach der Verwirklichung seines Potenzials. Auf dieser Ebene erkennt sich das Ich im Du, erspürt intuitiv-empathisch das Alles-Verbindende. Dieses Erkennen jedoch, das Erahnen der Aufhebung der monadischen Einsamkeit durch Empathie, ist verschränkte Information, ist transzendierte Liebe: Liebe, die über mein Einzeldasein hinausreicht, sich andockt an das Transzendentale – sie hebt Zeit auf, weil sie Zeit IST. Hier hebt auch der Tod sich auf, die existentielle Einsamkeit wird Hirngespinst.
(Und mit diesem Verständnis möchte ich Kierkegaard über die Zeit hinweg zurufen: Du hättest nie glauben müssen, du hättest nie deine fehlende Transzendenz missen müssen – du hättest Regine heiraten können. Es hätte dich transzendiert.)