Das Bild der Selbstbespiegelung wirkt auf den ersten Blick narzisstisch, selbstgefällig, doch in seiner existenziellen Dimension offenbart es eher eine Notlage. Wer in seiner Kindheit ohne das reale und resonante Gegenüber aufwächst, erfährt eine Art seelische Mangelernährung, die tiefer reicht als jedes leibliche Defizit. Der andere Mensch tritt nicht als wirkliches „Du“ entgegen, in dessen Spiegelung und auch in dessen Widerstand sich ein eigenes Ich hätte formen können. Stattdessen verbleibt das Subjekt in einem Schwebezustand, in dem es sich selbst nicht als gewachsene Gestalt, sondern nur als flüchtiges Echo erlebt. Es ist nicht so, dass hier ein Selbst verloren ginge, das es einst gegeben hätte; vielmehr entsteht das Gefühl, nie in einen Zustand von Selbsthaftigkeit gelangt zu sein. Das Leben wird dann zu einer Bewegung des tastenden Suchens, einem Mäandern wie ein Fluss, der in immer weiteren Bögen versucht, einen Weg zu finden und sich schließlich im Geröll verliert.
Martin Bubers berühmte Formulierung „Am Du wird das Ich“ zeigt, dass die Konstitution des Selbst wesentlich dialogisch ist. Ein Mensch wird nicht dadurch zum Ich, dass er über sich allein reflektiert, sondern dadurch, dass er im Antlitz des anderen gespiegelt wird. Fehlt dieses Du, bleibt das Ich einem Rohbau vergleichbar, dem die tragenden Wände fehlen. Es kann nach außen hin funktionsfähig erscheinen, Sprache lernen, Pflichten erfüllen und soziale Rollen übernehmen, doch im Inneren bleibt ein Vakuum, das nie mit lebendiger Substanz gefüllt wurde. Philosophisch betrachtet entsteht ein ontologisches Defizit: Das Subjekt ist nicht stabil im Sein verankert, sondern schwebt zwischen Sein und Nicht-Sein, wie ein Flackern, das keinen festen Grund findet. Statt einer gelebten Identität treten oft nur Bilder und Vorstellungen hervor, die wie Spiegelungen wirken, ohne jedoch Resonanz zu entfalten. Das Subjekt lebt in Abbildern seiner selbst, in Hoffnungen und Projektionen, während es das Echo des anderen Blicks, der Bestätigung verleihen könnte, vergeblich sucht.
Bindungstheoretisch lässt sich dieses Vakuum als Folge emotionaler Unterernährung deuten. Das Kind erfährt seine Affekte nicht gespiegelt und reguliert, sondern stößt ins Leere. Es lernt nicht, dass seine Gefühle eine Bedeutung haben und dass sein Erleben in der Welt einen Ort findet. Stattdessen prägt sich die Erfahrung ein, dass seine Signale ins Nichts verlaufen. Aus dieser frühen Erfahrung entwickelt sich häufig ein Muster, das zwischen klammernder Sehnsucht nach Resonanz und Rückzug in eine innere Scheinwelt pendelt. Wer klammert, hofft, das fehlende Echo nachträglich herbeizuzwingen, wer sich zurückzieht, versucht die Verletzung zu vermeiden, indem er die Welt in sich selbst ersetzt. Beide Bewegungen sind jedoch geprägt von der gleichen Grundnot: dem Fehlen einer echten, belebenden Gegenüberstruktur. Auch die Neurowissenschaften weisen darauf hin, dass die Entwicklung zentraler Strukturen im Gehirn – etwa des limbischen Systems und des präfrontalen Cortex – auf kontinuierliche Resonanz angewiesen ist. Wo diese Resonanz ausbleibt, bilden sich zwar funktionale, aber keine tragenden Muster aus.
Das paradoxe Schicksal der Betroffenen besteht darin, dass sie nicht ein einst vorhandenes Selbst verlieren. Vielmehr hat sich dieses Selbst niemals in tragfähiger Weise gebildet. Was bleibt, ist eine unaufhörliche Suche. Das Subjekt bewegt sich tastend zwischen Identitätsentwürfen, die es wie Bilder an eine Wand projiziert und immer wieder neu betrachtet. Doch die Bilder antworten nicht. Sie sind wie Spiegel, die zwar eine Gestalt zurückwerfen, aber keine Stimme und kein lebendiges Gegenüber enthalten. Psychologisch äußert sich dies in einem Gefühl von innerer Unruhe, von Getriebenheit, das sich durch die Sehnsucht nach Bindung noch verstärkt. Doch jede Bindung droht, in der Leere zu wiederholen, was einst fehlte: die Erfahrung, wirklich gesehen zu werden. Philosophisch erinnert dieser Zustand an Platons Höhlengleichnis, in dem die Menschen Schattenbilder betrachten, ohne das Licht der Sonne je erblickt zu haben.
Die Selbstbespiegelung, in die ein solcher Mensch gezwungen ist, trägt eine ambivalente Struktur. Sie ist einerseits eine Illusion, ein Kreisen um eine Mitte, die leer bleibt. Sie kann aber auch der Anfang einer Suchbewegung sein, ein tastendes Fragen nach dem eigenen Ursprung, nach dem Grund der eigenen Leere. In dieser Bewegung liegt bereits ein Moment von Freiheit. Wer nie ein stabiles Selbst erfahren hat, ist nicht einfach zur Leere verurteilt; er ist gezwungen, Identität als Aufgabe zu begreifen. Psychotherapie kann hier eine entscheidende Rolle spielen, indem sie ein reales Du bereitstellt, das das Selbst des Klienten nicht mit Bildern abspeist, sondern Affekte aufnimmt, bestätigt und zurückspiegelt. In dieser Resonanz entsteht zum ersten Mal ein Raum, in dem die eigene Erfahrung Gewicht erhält. Das Subjekt wird aus der Einseitigkeit der Selbstbespiegelung herausgerufen und in einen Dialog gestellt, der Identität nicht vorgaukelt, sondern in gemeinsamer Arbeit hervorbringt.
Das Leben in der Selbstbespiegelung ist also Ausdruck einer tiefen Verwundung. Es zeigt den Schmerz darüber, nie wirklich gesehen, nie wirklich beantwortet worden zu sein. Doch gerade in dieser Wunde liegt auch eine Möglichkeit. Wer gezwungen ist, sein Selbst zu suchen, anstatt es selbstverständlich zu besitzen, kann Identität nicht als Substanz, sondern nur als Prozess verstehen. Diese prozesshafte Sicht eröffnet die Chance, Selbstwerdung als eine Form des Wachsens zu begreifen, die immer wieder neue Resonanzbeziehungen sucht. Begegnungen, sei es in der Liebe, in der Freundschaft, in philosophischer Reflexion oder in psychotherapeutischer Arbeit, können den Spiegel in ein Fenster verwandeln. Dann zeigt er nicht länger nur das eigene Bild, sondern eröffnet den Blick auf ein Gegenüber, das lebendig antwortet. Erst in diesem Augenblick beginnt das Ich, wirklich auf sich selbst zu treffen – nicht mehr im Vakuum, sondern im Dialog des Seins. Und eventuell kann so, in der wahren Begegnung mit dem anderen, der eigenen Existenz eine zur Transzendenz einladende Sinnhaftigkeit abgerungen werden.