Es gibt Augenblicke, da scheint alles entschieden. Gewalt wurde verübt. Worte fielen, die nicht zurückzunehmen sind. Körper erinnern sich an Schmerz, an Kälte, an das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Die Psyche zieht sich zurück, schließt Türen, stellt das Licht aus. Und dennoch – ist nicht genau hier der Ort, an dem der Mensch zu sich kommt?

Wir sind Säugetiere, gewiss. Verkörperte Wesen im Strom der Evolution. In uns lebt die Erinnerung an Wärme, Nähe, an das gemeinsame Atmen, das gegenseitige Suchen nach Sicherheit. Die gute Seite unserer Säugetiernatur ist nicht die Schwäche – sondern die Kraft der Bezogenheit. Das Miteinandersein. Der Impuls, einander zu schützen. Dieser Impuls kann verschüttet sein, überdeckt von Traumata, gebrochen durch Kälte, durch Angst, durch die Verwirrung von Bedürfnissen. Aber er ist da. Immer. Nicht ausgelöscht, sondern verborgen.

Es ist der Geist, die noetische Instanz im Menschen, die in der Lage ist, diesen Impuls wiederzufinden – ihn zu benennen, zu bezeugen, sich auf ihn zu beziehen. Gerade weil Gewalt geschehen ist, liegt die Kraft nicht darin, sie gutzuheißen oder zu verzeihen, wo kein Verzeihen möglich ist – sondern sie zu verstehen. Zu verstehen, nicht im Sinne der Entschuldigung, sondern im Sinne der Menschlichkeit. Zu verstehen, dass auch der andere, in einem entscheidenden Moment, zwischen Reiz und Reaktion, nicht gewählt hat.

Dass er den Fuß nicht in die Tür bekam.

Dass er, vielleicht gehetzt von innerem Druck, blind für sich selbst und die Welt, nicht innehielt – und damit das Wesen seines Menschseins verfehlte: die Freiheit zur Wahl.

Verstehen heißt nicht, den Schmerz zu leugnen. Verstehen heißt, ihn zu bezeugen – und dennoch das Gute zu wählen. Wenn ich mich auf das Gute in mir beziehe, wähle ich nicht nur gegen die Wiederholung des Leids, sondern für meine eigene Würde. Für meine Freiheit. Für meine Menschlichkeit.

Ich muss dich nicht mögen. Ich muss dir nicht verzeihen. Aber ich kann erkennen, dass du jetzt leidest. Dass du deine Freiheit verloren hattest – und dass du sie vielleicht noch nicht wiedergefunden hast.

Trotzdem stehe ich dir bei. Nicht wegen.

Ich stehe bei, weil mein Wesen mich dazu befähigt, frei zu wählen. Ich verteidige meine Indeterminiertheit, meine Fähigkeit, nicht reflexhaft zu reagieren. Ich bestehe auf meiner Wahlmöglichkeit – auch dort, wo du sie verpasst hast.

So wird die Welt ein wenig heller. Nicht durch große Worte. Nicht durch moralische Überlegenheit. Sondern durch die stille Entscheidung, zu bleiben, nicht zurückzuschlagen, nicht abzuwerten, sondern Mensch zu sein – in allem, was das bedeutet: in unserer Wunde und in unserem Aufrichten, in unserem Schmerz und in unserer Wahl.

Das Wesen des Menschen ist seine freie Wahl. Und der Sinn unseres Menschseins liegt vielleicht genau dort: dass wir trotzdem, nicht wegen der Schuld der anderen, in Beziehung bleiben können.

Dass wir lieben können, obwohl.
Nicht weil.

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