In jeder Kindheit liegt ein verborgenes Gedicht. Manchmal ist es ein Liebeslied, manchmal ein Klagelied. Und manchmal verstummt es, bevor es je erklingen durfte. Was geschieht, wenn Kinder in Familien aufwachsen, in denen Liebe nicht als Geschenk, sondern als Währung gehandelt wird? In denen Zuwendung nicht fließt, sondern verteilt wird – bedingt, rationiert, entzogen? In solchen Familien wird Liebe nicht als unendliche Ressource erfahren, sondern als knappes Gut. Und der Kampf um sie beginnt oft früh – zwischen Geschwistern, die eigentlich Gefährten sein könnten in der langen Reise des Lebens.

Liebe als Sein – bei Martin Buber und Erich Fromm

Martin Buber beschreibt in seiner dialogischen Philosophie die wahre Begegnung zwischen Ich und Du als ein Geschehen, das nicht auf Besitz oder Bedürfnis gründet, sondern auf Präsenz und Beziehung. Die Liebe, sagt er, sei „zwischen“ den Menschen – nicht etwas, das man hat, sondern etwas, das geschieht. In einer echten Ich-Du-Beziehung wird der andere nicht zum Objekt meiner Bedürftigkeit, sondern bleibt Subjekt in seiner Einzigartigkeit.

Auch Erich Fromm versteht Liebe nicht als Gefühl im engeren Sinne, sondern als aktive Haltung, als eine Entscheidung zur Verbundenheit, zur Sorge, zum Respekt vor dem Sein des Anderen. In Die Kunst des Liebens beschreibt er Liebe als schöpferische Kraft – nicht als Knappheit. Wer liebt, wächst. Und lässt wachsen. Wer liebt, nimmt nicht – er gibt, ohne zu verlieren.

Familiäre Knappheit: Wenn Liebe verteilt wird wie Brot

In dysfunktionalen Familiensystemen jedoch erleben viele Kinder eine paradoxe Realität: Die Personen, auf deren Liebe sie am tiefsten angewiesen sind, machen genau diese Liebe zur Bedingung. Die Mutter, die „lieb ist“, wenn das Kind gehorcht. Der Vater, der schweigt, wenn enttäuscht. Das Kind wird zu einem Liebesunternehmer seiner selbst – strategisch, verunsichert, getrieben von Angst, verlassen zu werden. Noch schmerzlicher: Wenn diese Zuwendung nicht nur an Bedingungen geknüpft ist, sondern unter Geschwistern gegeneinander ausgespielt wird.

Ein Kind wird zum Lieblingskind erklärt, ein anderes zur Projektionsfläche von Enttäuschung. Die Liebe der Eltern wird nicht als Strom, sondern als knapper Stromstoß erfahren – selektiv, willkürlich, manipulierend. So werden Geschwister zu Konkurrenten um etwas, das nie hätte verknappt werden dürfen. Die Schwester ist nicht mehr einfach Schwester, sondern Gegnerin, Rivalin, Hindernis. Das Urvertrauen in die bedingungslose Liebe wird untergraben. Und was bleibt, ist eine tiefe, stille Traurigkeit – ein Gefühl der inneren Verlassenheit, das schwer zu benennen, aber nie ganz zu vergessen ist.

Die Tragik: Geschwister als Feinde

Dabei könnten Geschwister, wie kaum jemand sonst, Zeugen unseres ganzen Lebens sein. Sie kennen unsere Anfänge, unsere Sprache, unsere Wurzeln. Sie teilen das gleiche Nest, das gleiche Narrativ. Ihre Beziehung ist potenziell die langlebigste überhaupt – länger als zu Eltern, länger als zu Partner:innen. Wenn diese Beziehung jedoch durch emotionale Erpressung, Eifersucht und instrumentalisierte Zuwendung vergiftet wird, verliert das Leben eine seiner tiefsten Ressourcen: den Spiegel der Herkunft, der – in Liebe – nicht nur zeigt, wer wir waren, sondern wer wir trotz allem noch sein könnten.

Der Weg zurück: Entgiftung und Erwachen

Der Weg zurück zur Erfahrung der Liebe als unendliche Ressource beginnt dort, wo die Knappheitserzählung enttarnt wird. Wo wir – oft erst als Erwachsene – beginnen zu erkennen, dass das, was uns als Liebe verkauft wurde, in Wahrheit Kontrolle war. Dass wir lieben dürfen, ohne dass es jemanden weniger werden lässt. Dass Bindung nicht heißt, jemanden zu besitzen, sondern ihn frei zu lassen. Und dass wir uns aus dem Trauma der Verknappung befreien können – indem wir selbst zu Quellen werden.

Wie Buber schreibt: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Wer sich wieder traut, dem anderen als Du zu begegnen – ohne Angst, weniger zu sein –, heilt nicht nur sich selbst. Er durchbricht den Fluch der Konkurrenz und öffnet die Tür zu einer Liebesfähigkeit, die weder Besitz kennt noch Verlust – nur Begegnung. 


Der Weg zurück zur Liebe als unendlicher Ressource ist kein einfacher. Aber er ist möglich. Er beginnt in der Reflexion, führt über die Trauer um das Verlorene und endet – vielleicht – in der Fähigkeit, selbst dialogisch zu leben. In einer Haltung, in der das Geben nicht schwächt, sondern stärkt. Und in der Geschwister – manchmal spät, oft zu spät – wieder zueinanderfinden können. Nicht im Streit um Zuwendung, sondern in der Anerkennung eines gemeinsamen Schmerzes. Und der Hoffnung auf eine Liebe, die nicht zählt, nicht misst, nicht bewertet – sondern einfach ist.Der Weg zurück zur Liebe als unendlicher Ressource ist kein einfacher. Aber er ist möglich. Er beginnt in der Reflexion, führt über die Trauer um das Verlorene und endet – vielleicht – in der Fähigkeit, selbst dialogisch zu leben. In einer Haltung, in der das Geben nicht schwächt, sondern stärkt. Und in der Geschwister – manchmal spät, oft zu spät – wieder zueinanderfinden können. Nicht im Streit um Zuwendung, sondern in der Anerkennung eines gemeinsamen Schmerzes. Und der Hoffnung auf eine Liebe, die nicht zählt, nicht misst, nicht bewertet – sondern einfach ist.

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