Irgendetwas in dir ist im Ungleichgewicht, wahrscheinlich schon lange, vielleicht schon immer, aber jetzt spürst du es immer deutlicher. Was zuerst ganz vage, wie ein dünner Nebelfilm an einem letzten Sommertag, eher zu ahnen als zu sehen war, ist nicht mehr wegzublinzeln: Du weißt nicht, was es ist, und doch findest du dich plötzlich in einem Moment wieder, in dem deine Rationalisierungsstrategien, dein Wegdenken und Schönreden, nicht mehr greifen.
Vielleicht ist es ein Song, ein Klang, eine Melodie, oder ein Geruch, ein Flimmern in der Luft, was dich, kaum innehaltend, zu Tränen rührt. Und schon bist du gefangen von deinen Erinnerungen. Wirf die Münze: Wohin zieht dich deine Vergangenheit? Zu dem Schlimmen, dem Ungewollten, dem Schrecken? Zu dem, was dich hat überleben lassen, dir Kraft gab, dich gehalten hat? Zu den Beschämungen, den Übergriffen, den Beleidigungen? Zu der Liebe, der sachten Umarmung, der Kraft und Stärke dessen, der für dich einstand?
Und während die Münze in der Luft taumelt, spürst du es: Das Ziehen tief in deiner Brust, das Anklopfen der Erinnerungen, die schon so lange darauf warten, gesehen zu werden. Es gibt keine Wahl, keinen Zufall, nur das, was sich zeigt. Die Vergangenheit ist kein Archiv, das du nach Belieben durchblättern kannst. Sie ist ein Echo, das in deinen Körper eingeschrieben ist, in deinen Atem, deine Bewegungen, dein Verstummen, dein Zögern.
Und dann sind sie da, all die ungeweinten Tränen. Du weißt nicht, woher sie kommen, nur dass sie aufsteigen wie eine Welle, ein Ozean aus Traurigkeit, bodenlos, endlos. Sie brechen hervor, ohne dass du sie noch zurückhalten kannst, füllen deine Kehle mit einem Kloß, der so lange dort saß, still und unerkannt. Vielleicht waren sie immer da, verborgen hinter Masken des Funktionierens, verschlossen in den Kammern deines Herzens, weil es keinen Raum für sie gab.
Doch jetzt gibt es keinen Damm mehr, der sie halten könnte. Sie bahnen sich ihren Weg, fließen über deine Wangen, durchtränken deine Haut, deine Seele. Sie sprechen von alten Wunden, von ungelösten Geschichten, von allem, was verschwiegen, verleugnet, vergessen werden sollte. Aber sie wollen nicht länger verborgen sein. Sie sind nicht dein Feind. Sie sind dein Echo, das sich endlich Gehör verschafft.
Du willst es fortschieben, wie so oft, aber es bleibt. Vielleicht ist es diesmal an der Zeit, stehenzubleiben, nicht wegzulaufen, nicht zu betäuben, nicht zu verdrängen. Vielleicht ist es Zeit, mit der Vergangenheit zu sprechen, ihr zuzuhören, sie nicht als Feind zu betrachten, sondern als ein Stück von dir, das endlich anerkannt werden will.
Atme. Spüre den Schmerz. Spüre die Tränen. Sie sind kein Zeichen der Schwäche. Sie sind ein Zeichen, dass du fühlst. Dass du lebst. Vielleicht sind sie nicht gekommen, um dich zu zerstören, sondern um dich nach Hause zu führen.