Wir alle schauen im Leben irgendwann einmal zurück und fragen uns, was unsere besten und was unsere schlimmsten Momente waren. Und manchmal sind es gerade die glücklichen Augenblicke, die am schwersten zu fassen sind – die Momente, die nicht überschattet sind von einer drohenden Tragödie, von einem nahenden Abschied, von der Gewissheit, dass Leid, Tod und Schuld untrennbar zu unserer menschlichen Existenz gehören.
Ich erinnere mich an meinen einen Moment des allumfassenden, selbstvergessenen Glücks.
Ich war jung, Mitte, Ende 20. Und ich war in der Stadt unterwegs. Wohin und woher, ist egal. Es war Sommer. Die Straßen summten vor Leben, die Luft war warm, träge, durchzogen vom Duft nach sonnengewärmtem Asphalt, nach frischen Brezen und süßem Eis, das irgendwo in einer Waffel zerschmolz. Die Menschen flanierten, sprachen, lachten. Ein Straßenmusiker spielte eine melancholische Melodie, die sich wie ein leiser Schatten durch die helle Leichtigkeit des Tages zog. Ich trug ein grasgrünes enges Minikleid mit einer Margarite auf der Vorderseite.
Ich ging ohne Eile, ließ mich treiben. In einem Schaufenster spiegelte sich mein Gesicht – jung, entspannt, mit offenen Augen, die die Welt in sich aufnahmen. Ich spürte den Boden unter meinen Füßen, die Bewegung meines eigenen Körpers, die Sonne auf der Haut.
Und dann geschah es.
Der Himmel zog sich nicht zusammen, keine bedrohlichen Wolken ballten sich, kein Vorzeichen kündigte an, was kommen würde. Es war, als wäre die Welt einfach ein wenig weicher geworden. Die Luft schien stillzustehen, und dann – ohne Blitz, ohne Donner – begann der Regen.
Sanfte Tropfen, warm wie eine Berührung, legten sich auf meine Arme, mein Gesicht. Kein heftiges Prasseln, kein Sturm. Nur ein stiller, warmer Sommerregen, der die Welt nicht unterbrach, sondern sie umfing, als wollte er sie trösten. Ich zog meine grasgrünen Plateauschuhe aus, ging barfuß weiter und fühlte mich mit einem Male so unbeschreiblich jung und erfüllt, von instantanem Glück durchtränkt. Alle anderen Geräusche traten in den Hintergrund, es war, als ob ich alleine auf der Welt war, geborgen und gehalten von ihr.
Und dann stand da einfach da. Mitten im Leben, mitten in der Existenz. Ich war, bedingungslos im Jetzt.
Ich stand einfach da, mitten in der Straße, die Augen halb geschlossen, die Arme locker, den Atem tief und ruhig. Kein Gedanke, kein Bedürfnis, nichts außer dem Gefühl, dass dieser Moment, genau dieser, vollkommen war.
Ich fühlte mich nicht als jemand, der lebt, sondern als jemand, der ist.
Glücklich. Lebendig. Gestreichelt von der Welt.
Ich wusste nicht, dass es solche Momente nur einmal gibt. Dass wir irgendwann zurückblicken und feststellen, dass das Glück, das reine Glück, ein Kolibri ist, der sich nur ein einziges Mal auf unsere Schulter setzt. Danach bleibt immer eine Spur von Wissen zurück, ein Echo von Vergänglichkeit.
Leid, Tod und Schuld – die tragische Trias des Lebens – sie liegen immer vor uns, hinter uns, neben uns. Sie warten in den Schatten, sie gehen mit uns. Nehmen den leuchtenden Farben des Glücks ihre Strahlkraft, nehmen den Pastelltönen der Zufriedenheit ihren Schimmer.
Und doch gab es diesen einen Moment, in dem ich sie vergaß. In dem sie nicht existierten.
Vielleicht war das der Moment im Leben, in dem ich nicht nur lebte, sondern wirklich war.
Und dann zog der Regen weiter, und ich ging mit ihm.