Der Genuss aus Unglück – Menschen in der passiven, leidenden Rolle

Das Phänomen, dass manche Menschen bewusst in einer passiven, leidenden Rolle verharren, anstatt nach einem Ausweg aus ihrem Unglück zu suchen, ist sowohl aus psychologischer als auch philosophischer Perspektive bemerkenswert. Dieser Zustand kann als eine Art Genuss des Leidens betrachtet werden, wobei Genuss hier nicht im klassischen Sinne von Vergnügen zu verstehen ist, sondern als eine tiefere, oft unbewusste emotionale Befriedigung, die aus dem Verweilen im Unglück resultiert.

1. Die Psychologie des Leidens: Warum Menschen im Unglück verharren

Psychologisch gesehen gibt es viele Gründe, warum Menschen in einer leidenden Rolle verbleiben. Einer der Hauptgründe ist das Konzept der „erlernten Hilflosigkeit“, ein Begriff, der von dem Psychologen Martin Seligman geprägt wurde. Erlernte Hilflosigkeit beschreibt einen Zustand, in dem Menschen nach wiederholten Erfahrungen von Kontrollverlust das Gefühl entwickeln, dass sie keine Macht über ihre Lebensumstände haben. Statt nach Lösungen zu suchen, akzeptieren sie das Leid als unvermeidlich und verharren darin. Diese passive Haltung kann paradoxerweise eine gewisse Sicherheit bieten, da sie keine aktiven Schritte zur Veränderung erfordert und das Risiko des Scheiterns vermeidet.

Ein weiterer Aspekt ist das psychologische Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung. In der Rolle des Leidenden fühlen sich manche Menschen wahrgenommen und erhalten Mitgefühl von ihrer Umwelt. Das Unglück kann so zu einer Form sozialer Bestätigung werden, da es anderen Menschen ermöglicht, Trost zu spenden oder Hilfe anzubieten. Für den Betroffenen mag dies eine Möglichkeit sein, Nähe und emotionale Verbindung zu erleben, ohne sich den Herausforderungen von zwischenmenschlicher Verantwortung und eigenständiger Veränderung stellen zu müssen.

2. Philosophische Perspektiven auf das Verweilen im Leiden

Philosophisch lässt sich der Genuss am Unglück als ein Phänomen deuten, das tief in der menschlichen Existenz verwurzelt ist. Jean-Paul Sartre prägte den Begriff des mauvaise foi (schlechter Glaube), der beschreibt, wie Menschen sich selbst belügen, um der Verantwortung für ihre Freiheit und die damit verbundenen Konsequenzen zu entkommen. In dieser Selbsttäuschung wählen sie das Leiden, weil es ihnen ermöglicht, der Freiheit auszuweichen, die stets Entscheidungen und Handlungen erfordert. Das Verweilen im Unglück wird damit zu einem Schutzmechanismus vor der existenziellen Angst, die mit der Verantwortung für das eigene Leben einhergeht.

In einem anderen Sinne könnte der Philosoph Friedrich Nietzsche in seiner Betrachtung des Leids argumentieren, dass manche Menschen das Unglück kultivieren, um sich ihrer eigenen Tiefe und Bedeutung bewusst zu werden. Nietzsche sah das Leiden als unvermeidlichen Teil des Lebens, der das Individuum dazu zwingt, sich mit existenziellen Fragen auseinanderzusetzen. Für manche Menschen kann das Festhalten am Leid eine Form der Selbstbestätigung sein: Ein Beweis dafür, dass ihr Leben eine Schwere und Bedeutung hat, die in Phasen des Glücks oder der Leichtigkeit nicht vorhanden wäre.

3. Der soziale Aspekt des Leidens: Das Unglück als Identität

Für einige Menschen wird das Unglück zur Identität. Sie definieren sich über ihre Leiden und Probleme und finden darin eine Form der Selbstverwirklichung. Dieser Zustand wird oft durch die sozialen Dynamiken verstärkt, in denen diese Menschen leben. Das Unglück gibt ihnen einen Sinn und einen Platz in der Gesellschaft, in dem sie die Rolle des „leidenden Helden“ einnehmen, der von anderen bemitleidet oder bewundert wird. Die passive Rolle des Leidenden wird somit nicht nur zur Gewohnheit, sondern zu einer Art emotionaler Heimat, aus der sie sich nicht herausbewegen wollen, weil dies bedeuten würde, sich ihrer Identität zu entledigen.

Darüber hinaus kann das Festhalten an Unglück auch eine Verweigerung sein, sich dem Wandel und der Unsicherheit zu stellen, die mit Veränderung einhergehen. Die leidende Rolle mag schmerzhaft sein, bietet jedoch gleichzeitig eine Form von Beständigkeit, die dem Menschen in einer unsicheren Welt Halt gibt. Sich aus dieser Rolle zu lösen, würde bedeuten, sich dem Unbekannten auszusetzen, was oft als bedrohlicher empfunden wird als das bekannte Unglück.

4. Der „sekundäre Krankheitsgewinn“: Die verdeckten Vorteile des Leidens

Ein Konzept aus der Psychologie, das in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, ist der „sekundäre Krankheitsgewinn“. Dieser Begriff beschreibt die unbewussten Vorteile, die Menschen aus ihrer Krankheit oder ihrem Leiden ziehen. Auch wenn das Unglück auf den ersten Blick unerwünscht erscheint, kann es dem Betroffenen unbewusste Gewinne bringen, wie etwa Aufmerksamkeit, Entlastung von Verantwortung oder Mitleid. In dieser Dynamik bleibt das Leiden bestehen, weil es psychologisch nützliche Funktionen erfüllt.

So kann das Verharren in einer passiven, leidenden Rolle auch eine Strategie sein, um Verantwortung zu vermeiden. Menschen in dieser Situation erleben oft, dass ihre Umgebung geringere Erwartungen an sie stellt. In einer passiven Opferrolle zu bleiben, befreit sie von der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen oder aktive Schritte zu unternehmen, um ihr Leben zu verbessern. Diese Befreiung von Verantwortung kann eine unterschwellige Befriedigung bieten, selbst wenn das Leiden weiterhin vorhanden ist.

5. Das Unglück als Schutz vor Versagen

Viele Menschen, die bewusst in einer passiven, leidenden Rolle verharren, fürchten sich vor dem Scheitern. Das Verweilen im Unglück wird zu einer Art Schutzstrategie, da es keine aktiven Schritte zur Veränderung erfordert. Solange man nichts unternimmt, kann man auch nicht scheitern. Die Komfortzone des Leidens, so schmerzhaft sie auch ist, bietet eine Sicherheit vor der Angst, mit dem Versuch, das Glück zu erreichen, zu versagen.

Diese Angst vor dem Scheitern ist oft tief verwurzelt und kann Menschen davon abhalten, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Das Festhalten am Unglück wird so zu einem Mechanismus, um die schmerzliche Erfahrung des Versagens zu vermeiden – auf Kosten eines möglichen, aber unsicheren Glücks.

Fazit: Die Ambivalenz des Genusses im Unglück

Das bewusste Verharren im Unglück ist ein komplexes Phänomen, das auf psychologischen, sozialen und philosophischen Mechanismen basiert. Menschen, die in einer passiven, leidenden Rolle bleiben, erfahren unbewusst eine Art von „Genuss“, der sich in der Vermeidung von Verantwortung, dem Schutz vor Versagen und der sozialen Bestätigung äußert. Der Genuss des Leidens ist jedoch ambivalent: Er bietet zwar kurzfristige emotionale Befriedigung und Schutz, hindert aber zugleich daran, ein erfüllteres und glücklicheres Leben zu führen.

Der Weg aus dieser Dynamik erfordert Mut – den Mut, sich den eigenen Ängsten zu stellen, Verantwortung zu übernehmen und aktiv nach Veränderung zu streben. Nur durch das Verlassen der passiven Rolle kann der Mensch sein Potenzial entfalten und sich von der Last des unbewussten Genusses im Unglück befreien.

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