Seit einigen Monaten hat sich der Tod in meinem Leben eingenistet: Wie zu einem Picknick im Grünen breitete er seine Decke und packte er seinen Korb aus und ließ sich nieder. Und nun sitzt er da und schmaust: Einen großen Pott Kirschen hat er mit gebracht.

„Vor dem Herbst sterben die Leute eher als die Fliegen“, hieß es damals, in meiner Kindheit, bei uns auf dem Land.

Er spuckt gerne mit den Kernen um sich, der Tod, und ab und zu trifft mich ein solcher an der Schläfe. Denn ich sitze da, mit ihm auf der rot-grün-karierten Decke, unsere Beine berühren sich fast. So bemüht ich auch in die Ferne blicke, singt der Wind, leise die Baumwipfel streichelnd, sein Lied der vergessenen Ewigkeit.

Ich sammle die ausgespuckten Kerne auf: Ich will verhindern, dass sie Wurzeln schlagen, dass sie wachsen, zu mächtigen, Früchte tragenden Bäumen.

„Ich habe so Angst zu sterben – obwohl ich an Reinkarnation glaube“, gesteht ein Klient.

„Ich trauere seit 15 Jahren um meine Toten“, beklagt sich eine Frau, „und spüre dennoch ihre Seelen um mich herum!“

Ich bin ein Agnostiker, der nach Erleuchtung sucht, sage ich zu meinen Freunden, die mich zu fragen meinen. Ich sag´s auch dann, wenn sie´s nicht wissen wollen. „Gib Bescheid, wenn du sie gefunden hast“, kann nur die Antwort sein.

Der Tod sitzt neben mir, isst Kirschen und spuckt mir die Kerne vor die Füße.

Mein Handy vibriert, ich lese die Nachricht vom letzten Todesfall. Wird der Tod realer, wenn er da geschrieben steht? Ist es einfacher, den Tod nicht auszusprechen? 
Der Tod grinst mich an: In einer seiner Zahnlücken steckt ein Kirschkern fest.

Ich erinnere mich, wie der Tod das erste Mal in mein Leben trat: Ich war in etwa fünf Jahre alt, als meine Urgroßmutter, meine „Dudi“, starb. Meine frühen Lebensjahre begleitete sie wie ein gutmütiger Flaschengeist: Meine Schwester und ich neckten sie, indem wir ihr Gras in die Schuhe steckten, und sie rächte sich, indem sie uns die Füße kitzelte. Wie kostbar, wie wunderbar die wenigen Momente waren, in denen ich sie „erwischte“, früh am Morgen, bevor sie sich ihre taillenlangen, grauen, glatten Haare zu einem kunstvollen Dutt zwirbelte!

Und dann, eines Tages, hieß es: „Dudi ist tot.“

Die alte Frau hatte sich abends noch die Haare gewaschen, sich sonntäglich gekleidet und sich auf einen Stuhl zur Ruhe gesetzt. Dort fand mein Großvater, ihr Junge, sie am nächsten Tag.

Auf der Beerdigung war ich wie von Sinnen: Dort, in dieser Kiste, sollte meine Dudi liegen? Was soll die Ehrensalve der Dorfkapelle denn bedeuten? Erschreckt sie nicht die Seelen, die über den Wolken spielend sich tummeln? Ich weinte, ich trauerte, ich begriff diese Erwachsenen-Welt nicht.

Ich habe sie bis heute nicht verstanden.

Vergangene Woche starb ein Mensch, Freund will ich ihn nennen, überraschend, an einem Herzinfarkt.

Wenn wir trauern, trauern wir um uns: Wir trauern um eine verlorene Zukunft, wir trauern um all die verschenkten Optionen, wir trauern um all die Momente mit dieser Person, die nun ungelebt bleiben. Sieh zu, dass du keinen Menschen im Diesseits verlierst! Nutze jeden Moment, dem, der dir wichtig ist, so nahe wie nur möglich zu sein. Du musst niemanden retten, du kannst es nicht, auch dich nicht – doch in der Unendlichkeit des Lebens bist du hier, bist ein Kirschkern, der sich verwurzelt, wächst und sich dem Himmel entgegen reckt.

Ich nehme mein Handy und schreibe einer anderen Person: „Hast du Sonntag Zeit?“

„Ich bin beschäftigt“, kommt zurück, „irgendwann anders vielleicht.“

Don´t call us, we call you. Ich zwinge mich, innerlich mit den Schultern zu zucken, aber: Warum ist mir so kalt?

Ich pflückte ein Zweiglein vom Boden und reiche es dem Tod. Er steckt es zwischen die Zähne und holt den steckengebliebenen Kirschkern hervor. Dankbar nickt er mir zu und bietet mir eine Handvoll seiner Früchte. Ich nehme eine Kirsche, sie ist saftig, verführerisch und rot – sinnliches Sinnbild, voll praller Lebendigkeit.

Der Tod und ich spucken mit Kirschkernen um die Wette.

 

Teil 2: Kirschenessen mit dem Tod: Zwiegespräch

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