Ich träume.

Ich habe für meine Lieblingsweinbergschnecke ein Miniatur-Geschirr gebastelt, die lange, filigrane Leine kann ich um meinen kleinen Finger wickeln, um die Schnecke spazieren zu führen. Behutsam zäume ich die Schnecke auf. Wir beginnen unseren Weg.

Ich erinnere mich.

Die anderen Menschen haben längst den Friedhof verlassen, sie sitzen beim Leichenschmaus zusammen, unterhalten sich, vielleicht sprechen sie von dir, einige wagen bereits wieder die ersten Scherze, lachen, ab jetzt für immer ohne dich. Ich knie vor dem frisch aufgeschütteten Grab, meine Hände umklammern die kühle, feuchte Erde, es ist ein windiger, regnerischer Tag. Ich will mich durchgraben bis zu dir, mich neben dich legen, mich an deiner Seite auflösen. Was bleibt von mir, wenn du nicht bei mir bist?
Die Wellen des nahen Sees sind deutlich zu hören, auf der anderen Seite, dort hinten am anderen Ufer blinkt die Sturmwarnung ihren Alarm. Wie oft riefen sie dich raus, auch mitten in der Nacht, wenn wieder irgendein Segler die Warnung missachtete und in Seenot geriet... Wie oft lag ich in Sorge wach, dich da draußen wissend, während der Regen gegen die Fensterscheibe trommelte und die Böen an den Fensterläden rissen. „Kein guter Tag um zu sterben“ rauntest du mir zu, bevor du auszogst, das Wetter das Fürchten zu lehren. Du warst mein Held, mein Ritter, mein Abenteurer. Es war ein lieblicher, sonniger Tag, an dem du starbst.

Wo bist du nun?

Wie sehr wünschte ich, du wärst der Vogel dort, der sanft sein Lied im Regen trällert. Ich wünschte, du wärst der Fisch dort in den Wellen, der sich schemenhaft im Grau des Sees zu erkennen gibt.

Ich hebe mein Gesicht zum wolkenverhangenen Himmel, ob es nass vom Regen oder Tränen ist, ist mir nicht bewusst.

Der Tod bemüht sich, freundlich lächelnd zurück zu blicken, dabei verzerrt der Versuch seine Fratze nur noch mehr. „Willst du...?“ fordert er mich beinahe liebevoll auf. Ich muss nicht überlegen: Ich springe auf, lege meine Boxbandagen an, mache mich bereit. Leichtfüßig tänzelt der Tod um mich herum. „Bleib stehen“, denke ich, „du bietest mir kein Ziel!“ Er ist so schnell, dass sein Bild zu vibrieren scheint, es flimmert wie eine Wüstenstadt in der grellen Mittagssonne. Ich sehe ihn kaum, und aufs Geratewohl beginne ich, einige Schläge ins Leere zu platzieren Jab, Jab, Upper Cut, Hook.

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Kein einziger Schlag ist ein Treffer. Es ist, als ob ich meinen Schatten jage. Endlich gelingt mir ein Punch – und gleichzeitig gebe ich meine Deckung auf, der Tod landet einen Treffer in meiner Magengegend, mein Körper krümmt sich zusammen, und für einen Moment schweigt die Welt. Alle Geräusche verstummen und mir wird etwas klar, während ich den Tod flüstern höre: „Es tut mir so leid!“. Im Schattenboxen gewinnt der Tod doch immer – denn er zieht seine Macht aus dem Bewusstsein meiner Selbst. Weil ich mich selbst erkenne, mich damit abgrenze vom vagen, diffusen Zustand des ich-losen Seins, erlebe ich den Tod als absolute Trennung von der Kraft des Lebens, von der Wirklichkeit des Seins. Doch was ist mein Ich, was bin ich, wenn ich von allen Illusionen abstrahiere? Spiegeln wir alle nicht die Idee des allumfassenden, grenzenlosen Seins?

Das Zwitschern des Vogels dringt wieder zu mir durch, der Fisch schwimmt durch die Wellen, der Himmel weint. Nein, du bist nicht der Vogel, bist nicht der Fisch, bist nicht die Wolke, die auf mich blickt. Und in all dem finde ich dich wieder, erkenne dich, gestaltlos, im Gesang des Vogels dort, im Flüstern des Windes, im Raunen des Sees...

Mir träumt: Ich löse das Geschirr und die Leine von der Schnecke, lasse sie frei, sehe zu, wie sie gemächlich, selbstsicher und vertrauensvoll, in ihrer Geschwindigkeit, in ihre Zukunft zieht.

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