Philipp, der Sohn der Mamma CA-Patientin, ist am Boden zerstört: Soeben ging ihm auf, dass die Statistik, die besagt, dass 80 % der Brustkrebspatienten und -innen die nächsten fünf Jahre überleben, auch aussagt, dass eben 20 % daran sterben. „Mensch, jeder 5. Patient stirbt in den nächsten fünf Jahren – und innerhalb der nächsten zehn Jahre sterben sogar 30!“, sagt er und schlägt sich die Hände vor die Augen. „Ich muss wohl lernen, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass meine Mutter stirbt. Ich muss lernen, mich von ihr zu verabschieden!“

„Nein, falsch“, entgegne ich. In Philipp habe ich seit langem endlich wieder jemand gefunden, der meinen Humor vollständig teilt, und ich genieße unseren launigen Austausch sehr. Weil ich weiß, dass er mich verstehen wird, schlüpfe ich nicht in die Therapeutenrolle, sondern antworte ihm als Freundin. „Die Wahrscheinlichkeit ist viel höher als zwanzig Prozent, dass sie in den nächsten fünf Jahren stirbt.“ Philipp runzelt die Stirn. „Weil wir ja nicht alle am Brustkrebs sterben, es gibt da noch viel mehr Möglichkeiten, sich davon zu machen!“, fahre ich fort. „Und trotzdem behandelt du nicht jeden so, als ob er morgen tot sein könnte – im Gegenteil, du behandelst Menschen doch, als ob ewiges Leben gewiss wäre! Ich wage sogar zu sagen, dass das die unbedingte Voraussetzung ist, dich überhaupt auf Begegnungen, auf Beziehungen einlassen zu können...“
Er hebt eine Augenbraue – das macht er immer, wenn er zulässt, dass ein für ihn neuer Gedanke sein bisheriges Welt- und Selbstbild bewegt. „Ganz ehrlich“, seufzt er, „manchmal ist es schon sehr anstrengend, dich zu kennen“, und dann lacht er, und genau das wollte ich erreichen, und er lacht so laut, dass sich die Leute im Café zu uns umdrehen. „Was steht am Wochenende an?“, will er wissen. „Arbeit und Freunde treffen“, informiere ich ihn, „ich gebe ein Seminar“ und hole mir eine Rüge ein. Ob ich mich nicht mal schonen wollte, Kräfte sammeln, ausruhen will. Seine Mutter ziehe sich komplett zurück, erzählt er dann.

Ich sehe das anders: Du musst dein Leben aufrechterhalten, wenn du, irgendwann, dein Leben wiederhaben willst. Wenn du es jetzt aufgibst, entgleitet dir die Ankerleine, du musst sie festhalten, sonst ist sie weg. Wenn du überleben willst, lass dein Leben nicht zurück: Lass dir das bestehen, wohin du zurückkehren willst, halte deinen Alltag aufrecht, suche dir Ankerpunkte, an denen du deine Fröhlichkeit aufrichten kannst. Ich habe einen Urlaub mit einer Freundin geplant, endlich mal nach Lissabon, so lange wollte ich das schon, nie habe ich es gemacht; ich habe einen Tanzkurs gebucht und mich zu einem Kongress einladen lassen...
Ich will das Gespräch mit Philipp wieder ein wenig aufheitern, mir ist nach Spaß, und ich erzähle von den letzten Tagen:

„Wenn das hier schiefgeht, dachte ich, bewerbe ich mich für die Geisterbahn – mein Skelett ist echt gut, sagte der Radiologe nach der Szintigraphie. Ich glaube aber, dass ich vor allem wegen meiner Nieren beste Chancen als Playmate für Radiologen habe – ich hätte traumhaft schöne Organe, meinte der Arzt, der die Sono machte! Und dann war er ganz erfreut, meine rechte „wunder-, wunderschöne Niere“ zu schallen! Jetzt habe ich also einen Haufen Bilder von meinem Skelett und den ganzen Organen, und ich kann mich für den etwas anderen Playboy bewerben!“

Philipp gluckst. „Dann nehmen wir deine Szinti-Bilder“, kichert er, „drucken die schönsten aus, zerschneiden sie und machen uns ein echt, echt cooles Puzzle! Dann hängt sich zumindest keiner deine Organbilder als Scherenschnitt in seinen Spind!“

Seine Albernheit bestärkt mich, ich mache weiter und berichte ihm von meinem Besuch in der Strahlenklinik: „Sie müssen der Fahrdienst sein“, spricht mich ein Doktor an, „Sie sehen so gesund aus!“ Und als ich dann den behandelnden Arzt treffe, bin ich fasziniert von dem hellen Blau seiner Augen und versuche mich an einem Witz – ich will testen, woran ich bei ihm bin: „Ihre Augen strahlen ja von innen“, grinse ich ihn an. Ob er den Sprachwitz verstand? Ich weiß es nicht. Der Strahlenarzt trägt ein „fú“ um den Hals, das chinesische Symbol für Glück, und ich beschließe, dass (fast) alles, was er mir jetzt vorschlagen wird, genau deswegen in Ordnung für mich ist.

Ich habe die Betroffenheit der Menschen, wenn sie „Krebs“ hören, diagnostizieren oder untersuchen, endgültig satt, wir alle sterben irgendwann, unser Einfluss ist doch sehr bedingt, und wenn der Tod mich abholen will, dann werde ich nicht vor ihm davon rennen, im Gegenteil: Ich werde mein kürzestes Kleidchen anziehen und meine höchsten Schuhe, und dann werde ich mit ihm einen echt schnellen Rock´n´Roll hinlegen, und dabei lachen lachen, lachen. Und wenn ich mir dann in meinen hohen Hacken ein Bein breche, kann es mir endlich egal sein.

Sollten wir nicht alle vergnügt mit dem Tod gehen? Das Leben war und ist so schön, es hat ein gutes Ende verdient. Ich selbst will mit dem Tod beschwingt über den Abgrund tanzen, so dass der Fall zu einem Sprung wird, einem hohen, immer höheren Sprung, und ich weiß genau, was ich denken will, wenn ein letzter bewusster Gedanke sich aus einem letzten Feuern meiner Neuronen ergibt.

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